Business Donnerstag, 20.10.2022

Feuerwehrmann Nils Thal im Interview: "Dort helfen, wo Hilfe am dringendsten nötig ist"

Foto: fcn.de

Über acht Monate sind seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine vergangen. Millionen von Menschen leiden unter den russischen Angriffswellen. Der Club hat von Beginn an da geholfen, wo Unterstützung sinnvoll und möglich war. Dankbar und stolz ist der Verein dabei auf die breite und tatkräftige Hilfe aus der Club-Familie, von ukrainischen Geflüchteten und von engagierten Bürger*innen Nürnbergs. Besonders stolz ist der FCN auch auf Nils Thal, Mitglied in der Boxabteilung des 1. FCN Dachverein. Der berufliche Feuerwehrmann fuhr angesichts des Kriegs auf eigene Faust nach Charkiw an die vorderste Kriegsfront in der Ostukraine, um ehrenamtlich als Rettungskraft in Nürnbergs Partnerstadt zu helfen. fcn.de hat mit dem mutigen Feuerwehrmann über seine Erlebnisse in der Ukraine gesprochen…

fcn.de: Hallo Nils, inzwischen bist du wieder von deinem humanitären Einsatz aus der Ostukraine zurückgekehrt. Was war der wichtigste Beweggrund für dich, als Feuerwehrmann in die Ukraine zu gehen und zwangsläufig dein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen?

Nils Thal: „Für mich stellt der Überfall Russlands auf die Ukraine einen direkten Angriff auf die Demokratie, die Menschenrechte und die internationale Ordnung dar, was mit schrecklichem menschlichem Leid einhergeht. Gleich zu Beginn der Invasion bemerkte ich, dass qualifiziertes Hilfspersonal vor allem recht nahe an der Kriegsfront fehlte. Deshalb wollte ich dort helfen, wo Hilfe am dringendsten nötig ist. Ich habe mir dann eine Leidenskette vorgestellt, in der menschliches Leid mehr werden kann, je weiter man sich vom Ursprung des Leids entfernt. So können z.B. kleinere Wunden, die nicht ordentlich behandelt werden, später zu schwereren Krankheitsverläufen führen und letztlich Behandlungskapazitäten überlasten, was dann zu noch mehr menschlichem Leid führt. Das geht dann in jedem tragischen Fall auch immer mit einem menschlichen Schicksal einher. Das finde ich einfach furchtbar. Deshalb war für mich klar: Wenn ich effektiv helfen will, muss ich so weit vorne in dieser Leidenskette eingreifen wie möglich. In Charkiw wollte ich dann deshalb helfen, weil die Stadt gleich zu Beginn des Kriegs schwer umkämpft und die Not dort sehr groß war.“

fcn.de: Wann bist du in die Ukraine gegangen und wie lange warst du dort?

Nils Thal: „Seit etwa Mitte März hatte ich versucht, nach Charkiw zu gelangen. Durch bürokratische Hindernisse hatte sich das jedoch sehr lange hingezogen. Zuerst hatte ich versucht, über große internationale NGO’s in der Ukraine zu helfen, was nach zahllosen Mails aber im Sande verlief. Anfang Mai bin ich dann mit der Unterstützung des Frankenkonvois und der Städtepartnerschaft Charkiw-Nürnberg in die Ukraine gefahren und war etwa zwei Monate im Land.“

fcn.de: Wie hast du die Situation im Vorfeld des russischen Überfalls verfolgt?

Nils Thal: „So wie ich es verstehe, sieht sich die Ukraine bereits seit 2014 im Krieg, weshalb ich glaube, dass man sich dort auf weitere Angriffe vorbereitet hat. Als ich dann ab Herbst 2021 in der BBC mitverfolgte, wie nach und nach gewaltige Mengen russischer Kriegsgeräte an der Grenze zur Ukraine aufgefahren wurden, befürchtete ich bereits, dass es Krieg in Europa geben könnte.“

fcn.de: Was hast du während deines Einsatzes in Charkiw genau gemacht?

Nils Thal: „In Charkiw kam ich ehrenamtlich als Feuerwehrmann auf einer Feuerwache zum Einsatz. Weiter habe ich auch als Ausbilder, Rettungssanitäter und beim Verteilen von Lebensmitteln geholfen. Ich habe mir aber auch weitere Aufgaben gesucht. Als dringend nötig empfand ich z.B. die unabhängige Dokumentation von mutmaßlichen Kriegsverbrechen, die durch Menschen aus dem Ausland gewährleistet wird.“

fcn.de: Kannst du uns etwas von deinen Eindrücken vor Ort berichten?

Nils Thal: „Als ich Anfang Mai abends in Charkiw angekommen war, kam ich mir vor wie in einer Geisterstadt. Die Straßen waren menschenleer, die Laternen ohne Licht, die Häuser waren ebenfalls dunkel und viele davon beschädigt. Es herrschte eine unheimliche Stille, die nur durch das ein oder andere rasende Auto durchschnitten oder durch die dumpfen Schläge der Artillerie gestört wurde. Ich hatte deshalb ein sehr mulmiges Gefühl. In der ersten Woche gab es nachts andauernde Artilleriegefechte mit sehr vielen dumpfen Schlägen. Manche Detonationen waren nah genug, dass das Dach vibriert hat. Stark beschäftigt hatte mich auch die Frage, wie lange es überhaupt noch möglich wäre, im Notfall aus der Stadt zu fliehen. Als ich in Charkiw war, habe ich viele Menschen in langen Schlangen an Lebensmittel-Ausgaben stehen sehen. Ich habe auch mit verschiedenen NGOs Lebensmittel-Pakete an verschiedene Unterkünfte verteilt. Die Infrastruktur, also z.B. Schulen, Krankenhäuser, Elektrizitätswerk und Lebensmittellager schienen im Visier russischer Angriffe. Wenn ich heute die investigative Presse verfolge, dann wird mir klar, dass die Versorgung im Prinzip noch schwieriger werden wird. Ich befürchte, dass viele Menschen in der Ukraine einen bitterkalten kontinentalen Winter vor sich haben werden. Deshalb glaube ich, dass viel Hilfe nötig sein wird, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern.“

fcn.de: Planst du, wieder zurück in die Ukraine zu gehen und dort ehrenamtlich zu helfen?

Nils Thal: „Die humanitäre Lage in Charkiw und Region hat sich nach meiner Rückreise weiter zugespitzt und die Kollegen sind weiterhin ausgelastet. Ich glaube, sie brauchen dringend mehr Hilfe und ich befürchte, dass sich dies auch nicht so schnell ändern wird. Daher werde ich schnellstmöglich wieder in die Ostukraine reisen, um meine humanitäre Hilfe vor Ort fortzusetzen.“

fcn.de: Wie kam der Kontakt mit dem Club zustande?

Nils Thal: „Mitglied beim 1.FCN Dachverein bin ich bereits seit 2005. In der Boxabteilung war ich lange im Halbschwergewicht und zuletzt im Schwergewicht aktiv. Dadurch kenne ich  über die Boxabteilung hinaus auch viele aus der Club-Familie. Nach meiner Rückreise aus Charkiw und über Instagram meldete sich dann Yevgeniy, ein Spieler des FC Metalist Kharkiv 1925, bei mir. Er bedankte sich bei mir für meine ehrenamtliche humanitäre Hilfe in Charkiw während des Krieges. Weiter wollte er mir zum Dank dafür ein Geschenk überreichen. Ein von der gesamten Mannschaft signiertes Trikot. Da habe ich mich sehr gefreut. Mir war aber auch wichtig, dass die Stadt Nürnberg einen Platz auf diesem Trikot erhält, weil in Nürnberg ja auch sehr viele Menschen helfen. Final überreichte mir dann Oleksandra Lóboda, die beim 1. FC Nürnberg die Ukraine-Hilfe organisiert, das signierte Trikot als Geschenk.“

fcn.de: Was war deine eindrücklichste Erfahrung bei einem Feuerwehr-Einsatz in der Ukraine?

Nils Thal: „Einer der ersten größeren Einsätze, an den ich mich erinnere: Gegen 23 Uhr schlugen kurz aufeinanderfolgend mehrere Raketen an verschiedenen Standorten im nahen Stadtgebiet ein. Einen der Einschläge hatte ich vom Vordach der Feuerwache beobachten können. Kurz darauf sind wir zu einem der Einschläge gefahren. Als wir ankamen, fanden wir eine sehr große Lagerhalle vor, die in der Mitte ein gewaltiges Loch hatte und in Teilen brannte. Wir haben dort die ganze Nacht gearbeitet. Warum diese Lagerhalle, fragte ich mich. Ich hatte weder Soldaten noch Militärgerätschaften gesehen, auch keine Lebensmittel. Bereits während des Einsatzes wurde uns mitgeteilt, dass eine weitere Rakete eine Schule getroffen hatte. Ich erinnerte mich, dass ich in Charkiw bereits einige Schulen gesehen hatte, die beschädigt waren. Auch hieß es, dass Schulen Ziele wären. Dann hatte ich mir die Geo-Location unseres Einsatzortes genauer angesehen und mir fiel auf, dass sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Schule befand. Nach diesem Einsatz habe ich das Einsatzgeschehen neutral und unabhängig dokumentiert und an zuständige Stellen weitergeleitet. Meine eindrücklichsten Erfahrungen sammelte ich aber tatsächlich gar nicht während eines Einsatzes. Es waren viel mehr die Gespräche mit der ukrainischen Zivilbevölkerung in Charkiw. Wenn ich mich auf Englisch äußerte, drehten sich regelmäßig verwunderte Köpfe in meine Richtung, denn Ausländer schien es kaum zu geben. Immer wieder kamen Menschen auf mich zu, wenn sie mitbekamen, dass ich aus Deutschland komme, um sich zu bedanken, manche davon unter Tränen stehend. Sie konnten nicht glauben, dass ausgerechnet ein Deutscher ihnen zur Hilfe kommt. Das geht mir noch immer sehr nahe, denn viele Ukrainer fühlen sich dort von Deutschland noch immer alleine gelassen."

fcn.de: Danke für die bewegenden Eindrücke, Nils!

Das kommende Heimspiel am Samstag gegen Hannover 96 hat der Club unter das Motto Ukraine-Hilfe gesetzt und wird mit weiteren Aktionen in der nächsten Woche nachlegen. Auch Nils Thal wird im Stadion sein und ein Halbzeitinterview geben, um auf die Situation in der Ukraine und das damit verbundene menschliche Leid aufmerksam zu machen.


]]>